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Hochschulseelsorgerin: Was Seelsorge gefährlich macht

Hochschulseelsorgerin: Was Seelsorge gefährlich macht
FRANZISKANERIN ÜBER DIE MECHANISMEN VON SPIRITUELLEM MISSBRAUCH


STUTTGART ‐ Schwester Marie-Pasquale Reuver hat viele Jahre in der Klinikseelsorge gearbeitet und ist heute Hochschulseelsorgerin in Stuttgart. Immer wieder erlebt die Franziskanerin, dass Menschen durch religiöse Gruppierungen, Gemeinden oder spirituelle Angebote Schaden erleiden.


Was macht einen gesunden Glauben und eine gesunde Spiritualität aus? Dazu gehört auch das Grenzen ziehen, erklärt Schwester Marie-Pasquale Reuver. Die Ordensfrau hat viele Jahre in der Klinikseelsorge gearbeitet und ist heute als Seelsorgerin an der Hochschulseele in Stuttgart. Welche Erfahrungen die Ordensfrau dort gemacht hat und wie man sich vor spirituellem Missbrauch schützen kann, davon berichtet sie im Interview.

Frage: Schwester Marie-Pasquale, was meinen Sie konkret, wenn Sie von missbräuchlichen Situationen in der Seelsorge sprechen?  

Schwester Marie-Pasquale: Wenn Druck aufgebaut und Autorität missbraucht wird, ist Spiritualität gefährlich und kann sogar krank machen. Ich habe lange Zeit als Klinikseelsorgerin in einer psychosomatischen Einrichtung gearbeitet. Dort habe ich immer wieder Patienten kennengelernt, die Kontakte zu religiösen Gruppierungen hatten, die ihnen mehr Schaden zugefügt als geholfen haben. Eine Patientin etwa hatte ihr Kind durch einen Unfall verloren und war deshalb schwer depressiv. Sie war Mitglied in einer Freikirche. Dort wurde sie dazu aufgefordert, Gott immer wieder zu lobpreisen. Innerlich war dieser Frau aber gar nicht danach zumute. Außerdem wurde ihr gesagt, dass sie wohl zu wenig und nicht inbrünstig genug gebetet hätte und zu wenig fromm gewesen wäre, sonst wäre sie nun nicht depressiv, sondern wüsste, dass es ihrem Sohn bei Gott gut geht. Die Patientin wurde also für ihre Seelenlage selbst verantwortlich gemacht. Vier Jahre lang hat es gedauert, bis sich die Frau von dieser Gruppierung lösen konnte. Eine andere Patientin hatte mir erzählt, dass ihre Wohnung von Mitgliedern einer Freikirche nach Gegenständen durchsucht wurde, die angeblich für ihr unglückliches Leben verantwortlich seien und das Böse hineinlassen. Die haben dann einen Stein, den sie sich einmal von einem Strandurlaub mitgebracht hatte, aus der Wohnung entfernt. Solche Geschichten zeigen, wie Spiritualität negativ und bevormundend wirken kann. 

Frage: Woran kann man erkennen, dass ein spirituelles Angebot schädlich ist? 

Schwester Marie-Pasquale: Anfänglich erkennt man das häufig nicht. Denn die spirituellen Angebote wirken auf den ersten Blick harmlos, einladend, gewinnend. Menschen, die in einer seelischen Not sind, freuen sich über eine solche Kontaktaufnahme. Das geht etwa auch Studierenden oft so, die in eine fremde Stadt ziehen und sich über neue Kontakte freuen. Die neue Gemeinde wird vielleicht zu einer Art Familienersatz. Es ist schwer, sich später davon wieder zu lösen. Bei aufkommenden Zweifeln wird man häufig auch mit vorgefertigten Antworten mundtot gemacht. Manche können kaum unterscheiden, was falsch oder richtig für sie ist, denn die eigene Meinung zählt in solchen Gruppen meistens nicht. Letztlich wird einem dann gesagt, was Gott für einen will und was nicht. Wenn sich dann die Prediger dieser Gruppen selbst an die Stelle Gottes stellen und keine Autorität neben sich akzeptieren, wenn Zweifel und kritische Fragen nicht erlaubt sind, dann wird es gefährlich.  

Frage: Was kann Menschen helfen, die in religiöse Gruppen hineingeraten sind, die ihnen schaden, wieder herauszufinden? 

Schwester Marie-Pasquale: Es hilft, seine Bedenken zu äußern. Äußere ich meine Fragen innerhalb der Gemeinschaft oder der Begleitung gegenüber und ich werde nicht ernst genommen, dann habe ich ein weiteres Indiz für eine Spiritualität, die nicht in die Freiheit führt. Noch wichtiger ist es mit Menschen außerhalb zu sprechen. Solche Menschen können helfen, den eigenen Gefühlen wieder trauen zu lernen. Aber oft ist es ein sehr langer Weg und es braucht viel Mut, der eigenen Wahrnehmung wieder zu trauen.  

Video: © Julia Rübisch
Die Franziskaner Schwester Marie-Paquale Reuver spricht über den Glauben und was Kraft geben kann.

Frage: Innerhalb der katholischen Kirche gibt es eine große religiöse Vielfalt. Auch dort kann man missbräuchliche Situationen erleben…

Schwester Marie-Pasquale: Jede Situation, in der wir uns menschlich nah begegnen, birgt Verletzungspotential. Es kann jedem Seelsorgenden passieren, dass ein Wort oder eine Geste für jemanden nicht passt. Das kann ich nicht verhindern. Aber ich kann besonders darauf achten mein Gegenüber zu ermutigen, ins Gespräch zu bringen, wenn etwas für sie nicht passt. Missbräuchlich wird es dann, wenn ich die spirituelle Deutung meines Gegenübers nicht achte und ihr meine eigene aufzwinge. Wenn jemand zu wissen meint, wie Gott etwas genau sieht und was von Gott aus gesehen das Beste für mich ist, dann ist Vorsicht geboten und ich sollte mich widersetzen. Tut mir eine Begleitung durch einen Seelsorgenden nicht gut, dann habe ich das gute Recht, diese abzubrechen - auch wenn das oft viel Kraft kostet. Ich erinnere mich an eine ältere Frau, die ein schwieriges Trauergespräch hatte: Der Priester kondolierte nicht, fragte nicht nach dem Leben des Verstorbenen, sondern schimpfte über die heutigen Erstkommunionkinder. Es kostete sie viel Kraft, mich anzurufen und einzufordern, dass nach dieser Erfahrung nicht der betreffende Priester ihren Ehemann beerdigt. Danach war sie sehr dankbar, dass sie ihre Verletzung, auch für ihren verstorbenen Mann, ernst genommen hatte.

Frage: Darf man zum Beispiel auch während einer Predigt die Kirche verlassen, weil das, was dort vom Priester erzählt wird, einem nicht guttut und verärgert?

Schwester Marie-Pasquale: Ja, das darf man. Denn es gehört zu einer guten geistlichen Selbstfürsorge, dass ich für mich selbst Grenzen ziehe und diese auch aufzeige. Sicherlich ist der Gottesdienst nicht der erste Ort für eine Diskussion – das sollte danach erfolgen. Wenn ich es aber nicht ertragen kann, was gepredigt wird, dann kann ich durchaus unauffällig die Kirche verlassen. Ich selbst war schon einmal in einer Situation: Damals hat der Prediger davon gesprochen, dass zölibatär lebende Menschen "heiligmäßiger" seien als andere und unsere erste Aufgabe sei für ihn zu beten. Das hat mich ziemlich irritiert und ich wollte das so nicht hinnehmen. Seine Aussage hat viel Ärger in mir ausgelöst. Letztlich bin ich nicht hinausgegangen und sitzen geblieben. Stattdessen habe ich versucht mit ihm zu sprechen, was leider scheiterte. Wenn ich in einer seelsorglichen Situation spüre, da geht etwas gegen meine Haltung, gegen meinen Glauben, dann suche ich am besten den Austausch darüber und tue meine eigene Meinung kund. Das ist wichtig. Es gibt bestimmt auch Fälle, in denen das Reden nicht mehr hilft. Aber es gibt Stellen, bei denen ich das im Zweifelsfall melden kann. Immer wieder gibt es Seelsorger, die ein Predigtverbot von den zuständigen Bischöfen erhalten, weil Gläubige missbräuchliche Inhalte gemeldet haben. Wenn ich das Gefühl habe, jemand möchte mir etwas einreden, dann darf ich mich abgrenzen, um mich selbst zu schützen - auch körperlich. Höre ich schädigende Inhalte immer wieder, wie etwa eine Überbetonung des Bösen, dann macht das etwas mit mir und das muss ich nicht hinnehmen – dafür ist ein gesunder Glaube zu kostbar.

Frage: Manche sind über einzelne Seelsorgerinnen und Seelsorger so verärgert, dass sie gerne aus der Kirche austreten würden… Können Sie so etwas verstehen?

Schwester Marie-Pasquale: Ja, das kann ich nachvollziehen. Manchmal sind Verletzungen so tief, dass es erst einmal diesen Schritt der Abgrenzung braucht. Grundsätzlich würde ich aber empfehlen nach anderen Gemeinden im Umkreis zu schauen, um andere Erfahrungen zu machen.

„Ich helfe der Person, die Antworten selbst herauszufinden.“

— Zitat: Schwester Marie-Pasquale Reuver
Frage: Sie haben nun oft über geistliche Begleitung gesprochen. Wie muss eine gute geistliche Begleitung sein?

Schwester Marie-Pasquale: Eine gute geistliche Begleitung nimmt die Person und ihre Situation wertschätzend wahr. Es geht mehr um die Klärung der Lebenssituation, die ganz auf die Person bezogen bleibt. Wenn ich Menschen begleite, versuche ich eher solche Fragen zu stellen. "Was tut Ihnen gut dabei? Was macht Sie lebendiger? Was bringt Sie mehr zum Leben? Wo fühlen Sie sich Gott nahe? Welche Rituale helfen Ihnen dabei?" Ich helfe der Person, die Antworten selbst herauszufinden. Ich höre zu, bin da. Das genügt oft schon. Eine andere Sicht überzustülpen ist schädlich. Gott ist schon im anderen lebendig – das gilt es gemeinsam zu entdecken.

Frage: Ihre praktischen Tipps für einen gesunden Glauben?

Schwester Marie-Pasquale: Ich ermutige die Menschen meist, ihre eigene Spiritualität zu leben, diese herauszubilden. Das ist jedoch nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit. Es gibt vielfältige Formen von Spiritualität in unserer Kirche. Jeder sollte die finden, die zu ihm passt. Es macht mir Sorge, dass Menschen eine Sehnsucht nach Schwarz-Weiß-Vorgaben haben, vielleicht als Reaktion auf die eigene Unsicherheit. Diese Sehnsucht nach Sicherheit müssen wir als Kirche auch bedienen, aber ohne die Freiheit von Menschen dabei zu gefährden. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie so eine Pastoral aussehen könnte, die gleichzeitig Sicherheit bietet und in die Freiheit führt. Wichtig ist, dass ich den Menschen etwas mitgebe, was sie in ein Leben in Freiheit und Verantwortung führt. Herausfinden, was das sein kann, muss jeder im Letzen selbst. Jeder Mensch trägt einen Glaubenssinn in sich, das möchte ich fördern. Ich selbst schaue immer wieder: Führt mich mein Glaube, wie er sich gerade gestaltet in die Freiheit und eine tiefere Freude oder werde ich eng und traurig. Gott ist ein Gott des Lebens und eine gesunde Spiritualität verhilft dies auch zu spüren.

Von Madeleine Spendier

Kommentare

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paloma 05.04.2024 09:05
Ein interessanter Bericht.Tatsächlich birgt dieser sensible Bereich der Seelsorge Gefahren der Manipulation,wie eine Therapie im übrigen auch,wobei ein geschulter Therapeut oft besser ausgebildet ist,gesunde Grenzen einzuhalten.
Wichtig scheint mir auch,welches feedback steht dem Seelsorger zur Verfügung, hat er ebenso die Möglichkeit z.B.von Supervision u welche Ausbildung in diesem Bereich hat er genossen.
Gibt es für den Hilfesuchenden eine Anlaufstelle,zu der er mit seiner Kritik/Verletzung gehen kann.Der Klient ist nach solch einer Erfahrung nämlich besonders in der schwachen Position.
 
Klavierspielerin2 05.04.2024 09:59
Man sollte auch zw. Seelsorge und Psychotherapie unterscheiden.

In FeG, ebenso bei den STA ( lt. Palmeros)muss man sich bei den jeweiligen Gemeinden erkundigen, wo man das melden kann. 
Dort gibt es allerdings keine unabhängige Meldestellen, was leider ein Risiko der Verharmlosung, oder Vertuschung birgt.

Die beiden Kirchen sind bereits weiter und haben unabhängige Meldestellen. Wobei die EKD erst vor wenigen Monaten die Ergebnisse ihrer Missbrauchsstudie erhalten hat und jetzt erst die Präventionsmaßnahmen einleitet.

( Zu Seelsorgern in der RKK kann ich sagen, dass die Mitarbeiter speziell geschulte sind, die natürlich die Supervision nutzen)
 
Klavierspielerin2 05.04.2024 10:12
Schwester Maria-Pasquale Reuver hat ein Buch geschrieben zum Thema spiritueller Missbrauch. Es hat den Titel "Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen", hat 182 Seiten und ist im Patmos Verlag als Paperback erschienen. Das Buch kostet 20 Euro.
 
Klavierspielerin2 05.04.2024 10:30
FLORIAN BAUMGARTNER ÜBER EIN BESONDERES PASTORALES ARBEITSFELD

Seelsorge auf Festivals: "Bei manchen kommen da verdrängte Dinge hoch"


BONN ‐ Laute Musik und ausgelassene Feierstimmung: Für Florian Baumgartner genau das passende Umfeld für Seelsorge-Gespräche. Der Pastoralassistent aus der Diözese Linz berichtet im katholisch.de-Interview von seinen Einsätzen als Festivalseelsorger – und erklärt, was seine Motivation ist.


Sie wollen dahin gehen, wo die Menschen sind – eben auch auf Musikfestivals: In Österreich sind bei einigen großen Festivals im Sommer, etwa dem "Nova Rock", kirchliche Seelsorger unterwegs. Unter dem Dach der Katholischen Jugend Österreichs organisiert Florian Baumgartner, hauptberuflich Pastoralassistent in der Diözese Linz, die Einsätze und stellt dafür Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen zusammen. In den meisten Fällen ist er auch selbst dabei. Er spricht über die Besonderheiten dieses besonderen pastoralen Arbeitsfelds – und erklärt, warum es wichtig ist, dass die Kirche auch auf Musikfestivals Präsenz zeigt.

Frage: Herr Baumgartner, jemand, der Festival-Seelsorger ist, war doch in seiner Jugendzeit bestimmt auf vielen Festivals unterwegs. Wie war das bei Ihnen?

Baumgartner: Ich muss gestehen, dass ich in meiner Jugend oder im jungen Erwachsenenalter nur einmal selber auf einem Festival war. Aber für einen Festival-Seelsorger ist es auch gar nicht so wichtig, dass man die jeweilige Musik mag.

Frage: Sondern?

Baumgartner: Mir geht es um die Menschen, die auf einem Festival sind. Um die Feiernden, aber auch um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dort eine Zeit ihres Lebens verbringen. Ich sehe meinen Auftrag als hauptamtlicher Seelsorger darin, bei den Lebensvollzügen der Menschen zu sein und sie dabei zu begleiten. Und da gehören eben auch Feste oder Festivals dazu. Wenn man diese Offenheit als Seelsorger hat, dann hält man auch mal zu laute Musik oder das Wetter aus.

Frage: Wie wird man überhaupt Festival-Seelsorger? Braucht es da eine spezielle Ausbildung?

Baumgartner: Wir haben österreichweit pro Jahr eine Fortbildung, bei der man die Arbeitsweise und die Schwerpunkte der Festivalseelsorge kennenlernt. Da geht es vor allem darum, wie man mit den Besuchern umgeht und wie man sich in Spezialsituationen verhält, etwa wenn sie unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen stehen. Auch seelsorgliche Gesprächsführung wird dabei vermittelt. Dann lernen die Teilnehmer natürlich auch, wie sie sich selbst schützen oder abgrenzen können.

Florian Baumgartner mit einer Kollegin
Bild: ©Klaus Mittermayr
Florian Baumgartner (links) koordiniert die Einsätze von Seelsorgern auf Musikfestivals in Österreich.

Frage: Zu einem Festival gehen Leute, um gute Musik zu hören, um zu feiern und um Alkohol zu trinken. Provokant gefragt: Was haben in diesem Setting kirchliche Seelsorger überhaupt zu suchen?

Baumgartner: Alles haben sie dort zu suchen (lacht). Die Frage, warum wir überhaupt da sind, stellen uns natürlich auch viele Festivalbesucher. Wenn man dann erzählt, was man macht, entwickelt sich häufig eine sehr positive Stimmung. Und mit ganz vielen kommt man dann sehr schnell in ein persönliches Gespräch. Viele erzählen uns dann Situationen aus dem eigenen Leben, Dinge, die sie im Moment besonders beschäftigen. Gerade auf einem Festival, unter dem Einfluss von Musik, Schlafentzug und auch Alkohol, kommen manchmal Dinge zum Vorschein, die man im Alltag sonst vielleicht verdrängen kann. Da kommt dann etwas hoch, was man bereden möchte – aber nicht unbedingt mit dem Kumpel, mit dem man auf dem Festival ist. In solchen Situationen werden wir als Ansprechpartner geschätzt.

Frage: Was sind dann die Hauptgesprächsthemen mit den Festivalbesuchern?

Baumgartner: Bei 80 Prozent der Gespräche, das sind meist die kürzeren, geht es um die Situation auf dem Festival: das, worüber man sich freut, das, was gerade schwierig ist, das zu heiße oder zu schlechte Wetter oder die laute Musik. Von den Gesprächsprotokollen ausgehend, die wir machen, gehen 20 bis 25 Prozent der Gespräche in die Tiefe. Da vertrauen uns dann mache an, dass sie sich depressiv fühlen, dass sie eine schlimme Nachricht aus dem persönlichen Umfeld erhalten haben – oder sogar, dass sie Suizidgedanken haben. Wir sind natürlich keine Psychologen, aber wir vermitteln in solchen Situationen Hilfe. Was wir tun können, ist die Leute in der konkreten Situation zu stabilisieren.

Frage: Spielen bei diesen Gesprächen auch Glaubens- oder Kirchenthemen eine Rolle?

Baumgartner: Ja, aber das kommt eher seltener vor. Es tauchen natürlich immer wieder kritische Fragen auf. Da lassen wir uns dann auch auf die eine oder andere Glaubensdiskussionen ein.

„Gerade auf einem Festival, unter dem Einfluss von Musik, Schlafentzug und auch Alkohol, kommen manchmal Dinge zum Vorschein, die man im Alltag sonst vielleicht verdrängen kann. Da kommt dann etwas hoch, was man bereden möchte – aber nicht unbedingt mit dem Kumpel, mit dem man auf dem Festival ist.“

— Zitat: Florian Baumgartner
Frage: Wie sehr sind Sie auf Festivals "ausgelastet"? Also wie viele Menschen kommen auf Sie zu?

Baumgartner: Ich kann vom letzten großen Festival berichten, bei dem wir waren: In knapp vier Tagen haben wir in einem Team von 13 Seelsorgerinnen und Seelsorgern knapp 1.600 Gespräche geführt, mit Einzelpersonen bis hin zu kleinen Grüppchen. Wir haben also gut zu tun.

Frage: Gibt es auch dumme Sprüche oder gar aggressive Reaktionen von Festivalbesuchern auf Sie und Ihre Kollegen?

Baumgartner: Es gibt bei so einem Festival vielleicht ein Dutzend Gespräche, die wirklich negativ sind. Alle anderen verlaufen äußerst gut. Viele sind dankbar und sagen, sie finden es super, dass wir da sind. Viele stecken den Daumen in die Höhe, wenn sie uns sehen. Die Reaktionen sind zum allergrößten Teil wirklich sehr positiv.

Frage: Wie sieht so ein Festival-Alltag für Sie als Seelsorger aus?

Baumgartner: Wir haben einen fixen Standort, ein Zelt, am oder in der Nähe des Festivalgeländes, wo wir immer ansprechbar sind. Wir sind auch immer erkennbar an unseren speziellen Warnwesten. Beim letzten Festival haben wir es so gemacht, dass wir ab der Mittagszeit – wenn das Leben auf einem Festivalgelände sozusagen wieder beginnt, weil die Besucher langsam ausgeschlafen haben – in Zweierteams unterwegs waren und den Kontakt zu den Leuten gesucht haben. Viele haben uns dann zu einem Gespräch eingeladen – meistens verbunden mit der Frage: "Wollt ihr ein Bier?" Unsere augenzwinkernde Antwort ist dann immer: "Wir sind im Dienst!" Und schon ist man im Gespräch. Manche von denen, die wir getroffen haben, haben uns dann später an unserem Zelt aufgesucht, weil sie vor der Gruppe nicht reden wollten. Wegen unseres festen Standorts sind wir immer wieder auch Anlaufstelle für diejenigen, die aufgrund von Verletzungen medizinische Hilfe suchen. Wir alarmieren dann die Rettungskräfte und bleiben bei den Leuten, bis sie versorgt sind 



Frage: Manchmal ereignen sich auf Festivals ganz tragische Vorfälle: eine Massenpanik etwa, bei der viele Menschen sich verletzen oder gar sterben. Gab es für Sie einen Einsatz, den sie als besonders schlimm in Erinnerung haben, oder bei dem sie besonders gefordert waren?

Baumgartner: So etwas Extremes haben Gottseidank weder ich noch meine Kolleginnen und Kollegen bislang erlebt. Schlimme Situationen sind für uns sicher die, wenn Leute in Gesprächen die finstersten Abgründe ihres Lebens ausbreiten, von einem Gefühl der totalen Überforderung im Leben bis hin zu Gewalt- und Missbrauchserfahrungen. Und besonders herausfordernd sind natürlich die Einsätze, bei denen man Menschen begleitet, die in einer akuten emotionalen Notsituation sind. Eine Teilnehmerin hat zum Beispiel während eines Festivals erfahren, dass eine schwangere Freundin von ihr ein Kind verloren hat.

Frage: Wegen der Pandemie konnte in den vergangenen beiden Jahren vieles nicht stattfinden. Kommt das Thema Corona auch in den Gesprächen vor?

Baumgartner: Man merkt schon, dass Corona bei vielen etwas verändert hat. Wir sehen in manchen Gesprächen, dass vieles in Frage gestellt wird: Beziehungen, Lebenssituationen, Beruf, Veränderung. Viele sagen aber einfach nur: Wir haben lange nicht gefeiert, jetzt wollen wir endlich wieder Gas geben.

Frage: Was nehmen Sie für Ihre Praxis als Gemeindeseelsorger von einem Festival mit?

Baumgartner: Das befruchtet sich natürlich gegenseitig. Aber vor allem ist es die Offenheit, auf Menschen zuzugehen – in den Situationen, in denen sie gerade sind. Wir wollen als Kirche ja nicht nur für kirchlich sozialisierte Menschen da sein, sondern unser Auftrag aus dem Evangelium heraus ist, für alle Menschen da zu sein – egal, wo oder wie sie ihr Leben leben. Da müssen wir immer wieder schauen, welche Angebote wir als Kirche machen können.

Frage: Aktuell sind es vereinzelte Festivals in Österreich, bei denen Sie mit einem Team vor Ort sind. Ist es realistisch, das weiter auszubauen?

Baumgartner: Da sind wir tatsächlich dran. Aber es braucht viel Überzeugungsarbeit bei den Veranstaltern, weil sie das Thema Festival-Seelsorge oft einfach nicht auf dem Schirm haben. Aber wir haben nicht nur die größeren Festivals im Blick. Schön wäre es zum Beispiel, wenn sich auch an kleineren Orten kirchliche Mitarbeiter und Ehrenamtliche zusammentäten und kleinere Feste begleiten. Da bieten wir natürlich auch Unterstützung an.

Von Matthias Altmann
 
Klavierspielerin2 05.04.2024 10:34
Auch die evangelischen Christen sind präsent in der Seelsorge:


Hohe Nachfrage nach Seelsorge beim Wacken Open Air

VERÖFFENTLICHT AM 05.08.2022

WACKEN ‐ Auch harte Rocker haben Sorgen: Die kirchliche Seelsorge auf dem Metal-Festival Wacken Open Air ist in diesem Jahr besonders gefragt. Vor allem die Corona-Folgen bedrücken Besucher, die während der Feiern plötzlich hervortreten.


Im schleswig-holsteinischen Wacken herrscht erstmals nach zweijähriger Corona-Pause wieder Ausnahmezustand: Mehr als 75.000 Besucher sind zum Wacken Open Air (WOA), einem der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt, in das 1.800-Einwohner-Dorf gereist. Auf den Äckern, wo sonst die Kühe weiden, haben sie ihre Zelte aufgeschlagen und feiern zu harten Klängen von Bands wie Judas Priest, Slipknot und In Extremo.

"Viele Menschen sind froh, endlich wieder Party machen zu können", sagt der katholische Diakon Lutz Neugebauer. "Auf der anderen Seite ist es für viele das erste Mal seit Beginn der Corona-Pandemie, wieder Zehntausende Leute auf einem Haufen zu erleben. Das sorgt bei manchem auch für Irritation und Belastung."

Der 50-Jährige ist Mitglied im Team der Festivalseelsorge der evangelischen Nordkirche auf dem Wacken Open Air. 20 ausgebildete Fachleute, darunter Psychotherapeuten, Diakone, Sozialpädagogen und Pastoren, kümmern sich rund um die Uhr um die ganz persönlichen Sorgen der Fans. Zu erkennen sind sie an ihren blauen Westen mit der Aufschrift "Seelsorge". Bei Bedarf steht ein Zelt für Gespräche zur Verfügung.

Einsamkeit und Existenzängste

Auf den Umgang mit Corona-Folgen haben sich die Seelsorger eigens vorbereitet. Psychologen und Psychotherapeuten haben das Team im Vorfeld im Umgang mit Einsamkeit und Existenzängsten geschult. Und in der Tat kämen solche persönlichen Themen auf dem WOA zutage, berichtet Neugebauer. "Für viele ist so ein Festival ein Ventil, um Dampf abzulassen." So habe er bereits einige Gespräche mit Einzelbesuchern geführt, die sich in der großen Masse plötzlich einsam fühlten.

Dem ersten Eindruck nach sei die Nachfrage nach Seelsorge auf dem Festival höher als in den Vorjahren, sagt die Leiterin des Teams, die evangelische Landesjugendpastorin Annika Woydack. Auch habe es gleich am ersten Einsatztag viele Fälle und "deutliche Gespräche" gegeben – unter anderem ging es um Panikattacken, Traumatisierungen und Depressionen.

Scheinwerfer strahlen über dem Logo des Wacken-Festivals, einem riesigen Rinderschädel, der über der Hauptbühne aufgehängt ist.
Bild: ©picture-alliance / dpa
Das Wacken Open Air ist eines der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt.

Politische und gesellschaftliche Krisenthemen wie der Ukrainekrieg, der Klimawandel und die Inflation bleiben dagegen nach Wahrnehmung der Seelsorger außen vor. "Beim Festival steht das Feiern im Mittelpunkt. Da ist ja auch verständlich, dass solche Themen eher ausgeblendet werden", sagt Neugebauer.

Viel positives Feedback

Nur in bislang einem seiner Gespräche sei es auch um den russischen Angriffskrieg gegangen. Eine gebürtige Russin, die in ein anderes Land ausgewandert sei, sei eigentlich wegen eines anderen Themas zu ihm gekommen. "Ihre Herkunft hat sie erst nach einiger Zeit und nur sehr vorsichtig erwähnt. Man merkte, dass es ihr in der Seele wehtut, für etwas verantwortlich gemacht zu werden, für das sie gar nichts kann."

Von den Festivalbesuchern erhalten die Seelsorger viel positives Feedback. "Einer der Sätze, die ich in diesen Tagen am häufigsten höre, ist: Ich brauche euch nicht, aber gut, dass ihr für die anderen da seid", so Neugebauer. Beschimpfungen, wie sie viele andere Kirchenmitarbeiter in jüngster Zeit aufgrund des Missbrauchsskandals erfahren haben, habe er auf dem Festival noch nicht erlebt.


Bild: ©KNA/Michael Althaus
Lars Wulff (l.) und Lutz Neugebauer arbeiten bei der Festivalseelsorge mit.

Seelsorge gibt es auf dem WOA seit 2010. Das von der Nordkirche entwickelte Konzept dient inzwischen als Vorbild für vergleichbare Angebote, etwa auf dem Greenfield-Festival in der Schweiz. In den vergangenen Jahren führten die Seelsorger jeweils zwischen 250 bis 300 Gespräche auf dem Metal-Festival, wo sie immer vier Tage lang im Einsatz sind. "Ich bin sicher, es werden dieses Jahr mehr", sagt Woydack.

Die Festivalseelsorge ist nicht das einzige Angebot der Kirchen auf dem WOA. Bereits am Mittwochabend wurde die Wackener Dorfkirche bei einem eigens für die Festivalbesucher gestalteten Gottesdienst zur "Metal Church". Im Anschluss trat eine kroatische Metal-Gruppe in der Kirche auf.

Für Neugebauer, der im normalen Leben als Krankenhaus- und Notfallseelsorger in Hamburg arbeitet, ist der Einsatz auf dem Festival eine zeitgemäße Form, den christlichen Glauben zu leben. "Als katholischer Diakon bin ich verpflichtet, Menschen in Not beizustehen. Das gilt auch für ein Metal-Festival, das mit seinen mehreren Zehntausend Besuchern vorübergehend die drittgrößte Stadt Schleswig-Holsteins ist."

Von Michael Althaus (KNA)
 
Jerusa 05.04.2024 11:47
Dazu ist eine differenzierte Betrachtung notwendig :

Religiöse Gruppierungen können schaden und krank machen, besonders Sekten und auch Freikirchen, da diese keine Kontrollorgane ueber sich haben.
Insgesamt ist man, bei der kath Kirche, auf der sicheren Seite, da kann man sich den Priester aussuchen, ausserdem gibt es einen Oberhirten, sowie die Jahrtausende bewahrte Tradition. 

Die Haltung, Gott für alles zu LOBEN, ist absolut biblisch und auch in kath Kreisen üblich und sinnvoll, denn Gott ALLEIN ist Herr über alles, ER sieht die Zusammenhänge. Gott kann, aus Liebe, ein Kind zu sich rufen, dafür sollten wir danken, denn es könnte, als Erwachsener verloren gehen. Gott sieht die Zukunft, daher kann der Tod Gnade sein, und wir sollten Gott tatsächlich loben.
Negative, bis satanische Dinge, aus der Wohnung zu entfernt, sollte für Christen selbstverständlich sein. Exorzisten beginnen oft ihre Arbeit nicht, wenn sich Platten, sowie Tshirt,, oder anders von, zb satanischen Bands in der Wohnung befinden.

Ein typisches Problem unserer Zeit ist, dass jede und jeder glaubt, alles selber, aus der Perspektive Gottes be und verurteilen zu können, also selber Gott zu sein. 
Da fehlt es eindeutig an DEMUT, um Gott zu BITTEN, dass ER die FÜHRUNG übernimmt:NICHT mein, sondern grinsendes SmileyEIN Wille geschehe. Für die Heiligen war das noch selbstverständlich.
 
Jerusa 05.04.2024 11:49
Sorry doppelt, der smiley gehört nicht rein
 
lachendefrau 05.04.2024 12:03
bravo, klavierspielerin !!

kann gar nicht oft genug darauf hingewiesen werden !!

geistlicher missbrauch richtet immensen schaden an.

gerade weil den opfern erzählt wird, sie müssten "gehorsam" sein.

danke fürs einstellen.
 
paloma 05.04.2024 14:40
Danke für die Infos,habe noch nicht alle gelesen.
Ist ja auch wichtig,dass aus Fehlern gelernt wird,denn überall sind fehlerhafte Menschen am Werk,uns inklusive, u es sind Bereiche,wo Vertrauen u Schädigung eng zus.liegen u das im "System" bedacht werden sollte. 👍🏼Gut,wenn da Bewegung u Aufmerksamkeit entsteht.
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