Evolution (2021)

Evolution (2021)
Theatral inszeniertes Triptychon einer jüdisch-ungarischen Familie, das der Zwiespältigkeit von kultureller Identität und subjektiver Erinnerung nachgeht. 


Mitten im eisigen Winter treten drei uniformierte Männer in einen finsteren Kellerraum. Nach einer zögerlichen Inspektion des heruntergekommenen Ortes fangen sie mit Besen und Wassereimern manisch zu reinigen an. Doch der Abrieb an den Wänden bringt eine grauenerregende Realität zum Vorschein: Menschliches Haar wuchert aus den aufgeplatzten Rissen und löst bei den Soldaten Angst und Abscheu aus. Als zwei Duschköpfe in den Blick kommen, die von der Decke ragen, muss man unwillkürlich an die Shoa denken, auch wenn die Szene surreal-albtraumhafte Züge aufweist.


Durch das verzweifelte Schreien eines kleinen Kindes verwandelt sich die Szenerie plötzlich in den Schauplatz eines Wunders. Denn unter einem Abflussgitter im Boden hat sich ein kleines Mädchen versteckt, das die Männer befreien und hinaustragen. Außerhalb des Kellers besteht kein Zweifel mehr über den Ort des Geschehens: die Baracken und die Form des Stacheldrahtzauns verweisen auf das KZ Auschwitz-Birkenau. Die Männer in den langen Ledermänteln gehören zu den sowjetischen Befreiern. Als die Kamera sich zu sanfter Musik in die Vogelperspektive zurückzieht, wirkt das Setting wieder abstrakt und unwirklich.


Ein „anti-filmisches“ Kammerspiel

Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó und seine Frau, der Drehbuchautorin Káta Weber, wählen einen kontroversen Prolog als Einstieg. Erst im zweiten Teil von „Evolution“ erklärt sich die Eingangssequenz durch die Geschichte der Holocaust-Überlebenden Éva (Lili Monori). Hochbetagt und an Demenz erkrankt lebt sie allein in ihrer Budapester Wohnung. Durch den Besuch ihrer erwachsenen Tochter Léna (Annamária Lang) entspinnt sich zwischen beiden ein Streit um familiäre Geburtsurkunden und die Bedeutung jüdischer Identität.

Éva ist noch immer geprägt von tiefer Scham und dem energischen Willen, allen Umständen zum Trotz zu überleben. Für ihre Tochter war dies mit einer Kindheit voller emotionaler Haltlosigkeit verbunden. Sie sucht in einem aktiven Leben in der jüdischen Gemeinde in Berlin einen übergreifenden Sinn und außerdem den Vorteil eines begehrten Kita-Platzes. Ihre Mutter hingegen empfindet Lénas Bestreben, in Deutschland Fuß zu fassen, als unmittelbare Bedrohung ihres eigenen Selbstverständnisses.


Der Streit um die Aushändigung der Geburtsurkunde ist allerdings nur der Aufhänger eines langen, intensiven Wortwechsels, den Mundruczó als theatrales Kammerspiel in Szene setzt. Diese geradezu „anti-filmische“ Erzählweise, wie der Regisseur sie nennt, arbeitet gezielt mit der Künstlichkeit der dramatischen Ausgangssituation, um die Ambiguität subjektiver Erinnerung aufzuzeigen.


Man merkt „Evolution“ deutlich an, dass der Film auf einem Musiktheaterstück von Mundruczó basiert, das 2019 von seiner Theaterkompanie auf der Ruhrtriennale uraufgeführt wurde. Seine Eindringlichkeit gewinnt der Prolog vor allem durch die zur Bühnenperformance gehörenden Elemente. Auch im weiteren Verlauf des Films dienen Stilisierungen dazu, die Verfügbarkeit historischer Wirklichkeit für den Einzelnen zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn es sich um die Tradierung von Familiengeschichten handelt.

Das Stigma der Identität

Konkret zeigt sich das in Évas Demenz und den daraus resultierenden Erzählungen über ihre Geburt im Konzentrationslager. Eine Erinnerung daran ist unmöglich und nur über Dritte vermittelt. Nicht umsonst ist Éva eine erfolgreiche Schriftstellerin. Doch nun entgleiten ihr auch diese Geschichten, vermischen sich mit anderen. Eine davon gehört zu einer Episode aus dem Film „Die vier Schwestern“ von Claude Lanzmann. Ihre Tochter protestiert und korrigiert Évas mäandernde Selbsterzählungsversuche. Ihr Leben lang hat Léna die Traumatisierungen ihrer Mutter in sich aufnehmen müssen. Diese affektive Arbeit gipfelt in einer ungewöhnlichen Szene, als Éva durch ihre Inkontinenz ganz real den Wohnzimmerboden mit Unverdautem überflutet, was ihre Tochter mit ihrer eigenen Überwältigung konfrontiert.


Die letzte Episode des als Triptychon angelegten Familienporträts spielt in der Gegenwart in Berlin. Ein Brand in einer Schule bedingt, dass Jónás (Goya Rego) am frühen Nachmittag frei hat. Der sensible Junge scheint für das Bullying seiner Kameraden geradezu prädestiniert zu sein. An diesem Tag richtet sich das Interesse der aggressiven Mitschüler aber auch gegen die hagere Yasmin (Padmé Hamdemir), deren muslimischer Vater ihr die heimlich gefärbten Haare abgeschoren hat. Die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Jónás und Yasmin zählt allerdings zu den dramaturgischen Schwachstellen von „Evolution“, was auch am holprigen Spiel der Jungdarsteller liegt.

Im Streit mit seiner Mutter Léna wehrt sich Jónás gegen ihre Versuche, ihm ihre jüdische Identität aufzudrängen. Ihr eigener Wunsch nach Stabilität macht sie blind für die sozialen Umstände, in denen ihr Sohn lebt. Auch Léna gibt damit ihre Traumatisierungen an die nächste Generation weiter. Als sie wutentbrannt die Schuldirektorin anruft, um sie mit den Angriffen gegen Jónás zu konfrontieren, flüchtet sich die Lehrerin in Antirassismus-Rhetorik, anstatt den Antisemitismus als solchen zu benennen. Dass es sich dabei keineswegs nur um einen importierten Nah-Ost-Konflikt handelt, wie sie behauptet, wird an ihrer Herablassung gegenüber der aufgebrachten Mutter deutlich.


Zwischen Geworden-Sein und Zukunft 

Zu den besten Szenen des Films gehört eine von der Schule vorgeschriebene Teilnahme am Sankt-Martins-Umzug. Wenn die strahlenden Kindergesichter im Fackelzug einstimmig Lieder schmettern und die Gitarre des Prenzlauer-Berg-Lehrers genauso autoritär klingt wie die sie begleitenden Trommelschläge, dann wird einem mulmig zumute. Die Fremdheit, die Jónás und Yasmin unabhängig voneinander inmitten ihrer Klassenkameraden empfinden, ist deshalb eher ein Moment der Hoffnung. Ihre Beziehung lässt sich durchaus als eine Tendenz verstehen, die Bürde der jeweiligen Identität hinter sich zu lassen und in der Zuwendung zueinander etwas Neues zu schaffen.

Man merkt „Evolution“ an, dass Mundruczó und Weber mittlerweile selbst in Berlin leben und mit den kulturellen Widersprüchen ihrer Figuren vertraut sind. Im Drehbuch verarbeitete Káta Weber Teile ihrer eigenen jüdisch-ungarischen Familiengeschichte. Mitunter läuft die Theatralität der Inszenierung Gefahr, ihre Symbolik zu aufdringlich zu kommunizieren. Doch über weite Strecken gelingt es, das Ringen mit der eigenen Herkunft und die mit ihr verbundene Verletzlichkeit auf berührende Weise zu vermitteln. Evolution meint in diesem Sinne ein Geworden-Sein, das man sich nicht ausgesucht hat und das unbewusst den eigenen Weg prägt.


Trailer:

https://youtu.be/4pPT11PCNhM


https://www.filmdienst.de/film/details/619316/evolution-2021#kritik

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