Angriff der Liebe - Liebe zum Feind

Angriff der Liebe - Liebe zum Feind
„Liebe zum Feind“

Nirgends offenbart sich die Göttlichkeit der Liebe so deutlich wie dort, wo sie sogar den Feind einschließt. Diese göttliche Liebe findet ihren höchsten Ausdruck in den Worten Jesu am Kreuz: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Gott hat die Menschen geliebt, als sie noch seine Feinde waren. Das ist auch heute noch seine Art, und er will, daß seine Kinder auch diese göttliche Art in der Welt verwirklichen.

Wer ist aber mein Feind? Wir sind leicht geneigt, unsere Feinde in der Ferne zu suchen. Beim Feind denken wir sofort an einen Gegner, der Gewalt und Verfolgung ausübt und mit Vernichtung droht. Zu meinen Feinden rechnen aber schon die Menschen, die mir unsympathisch sind und die eine andere Meinung haben. Der Vorgesetzte, der mich ausnutzt und schikaniert, kann gefühlsmäßig zum Feind werden, ebenso wie Hausbewohner, die mich belästigen und mich in meiner Freiheit einschränken. Kurz gesagt: es sind die Menschen, die mir auf die Nerven gehen. Liebe üben heißt nun nicht, die Feinde zu ertragen – stillschweigend und abwartend – bis sie sich ändern. Hier ist ein Angriff der Liebe die richtige Art zu lieben. Ein bekannter russischer Schriftsteller und Revolutionär hat einmal gesagt:

„Es gibt nur eine Macht, gegen die wir als Kommunisten machtlos sind: es ist die Liebe der Christen, - doch zum Glück wissen sie es nicht.“

Die Macht der Liebe beweist sich gerade im Angriff am wirksamsten. Dieser Angriff aber ist unserer Natur am meisten zuwider.

Um zur Feindesliebe fähig zu sein, müssen wir vom eigenen Standpunkt erlöst werden. So wie Jesus seinen Standpunkt, sein Eigentum, verließ, um in der Welt seiner Feinde ihren Standort zu suchen, so müssen auch wir bereit sein, unsere Welt der eigenen Meinung und Standpunkte zu verlassen. Dabei machen wir eine seltsame, überraschende Feststellung: Jedesmal, wenn ich meinen eigenen Standpunkt verlasse, um mich auf den Standpunkt des anderen zu stellen, entdecke ich, daß er gar nicht so böse und gemein ist, wie das von meinem Standpunkt zunächst aussah. Vielleicht merke ich sogar, wie hilfsbedürftig und liebehungrig mein scheibar starker Gegner im Grunde ist. - Jesus hat sich auf unsern Standpunkt gestellt, wurde so mit uns – sogar mit unserer Sünde – identisch, daß er uns richtig versteht. So konnte er am Kreuz seine Mörder mitfühlend und voller Erbarmen anschauen und, anstatt für sich um Hilfe zu schreien, für sie Fürbitte tun. Er achtete nicht auf seine körperlichen Schmerzen und die Todesnot, sondern er wurde gequält von der Sünde und Blindheit in den Herzen seiner Feinde. Jesus litt nicht unter Selbstmitleid, sondern litt und starb im Leiden für seine Feinde. Jesus war der einzige Mensch, der nicht an sich selbst litt. Dadurch konnte er ganz und total für die andern leiden. Er war so frei von sich selbst, daß er alle, auch seine Feinde, verstehen und lieben konnte.
Diese Gesinnung vermachte er seinen Jüngern, schenkte sie ihnen, indem er ihnen seinen Geist, sein Wesen, seine Liebe ins Herz gab.

Während einer Evangelisationversammlung kam eine jüngere Frau zu mir und klagte unter viel Tränen ihre Not. Sie lebte als Untermieterin mit einer zänkischen Frau zusammen. Es verging kaum ein Tag, wo sie sich nicht gegenseitig schikanierten, beleidigten, quälten. Sie fegten sich gegenseitig den Schmutz vor die Tür, sie schraubten sich die Sicherungen heraus, und wo sie übereinander Negatives reden konnten, taten sie es. Dieser Zustand war deshalb so unerträglich, weil die junge Frau schon lange versuchte, als Christ zu leben, aber immer wieder durch ihr Verhältnis zur Nachbarin Schiffbruch erlitt. Hier kam ihr die ganze Schwäche ihres Glaubens zum Bewußtsein. Wie oft hatte sie schon um Kraft gebetet, aber immer wieder versagt! Wie oft hatte sie schon um die Bekehrung ihrer Nachbarin gebetet, aber nichts änderte sich. Wie oft hatte sie schon darum gerungen, still zu sein und den unteren Weg zu gehen, hat es aber nicht geschafft. Nun war sie am Ende ihrer Kraft und auch am Ende ihres Glaubens. Auf meine Frage, ob sie wirklich bereit sei, eine Hilfe anzunehmen, antwortete sie sehr schnell: ja. Als ich ihr jedoch meinen Vorschlag machte, wurde sie sehr stutzig und nachdenklich. Unter vielem Zögern erklärte sie sich aber bereit, es zu versuchen. Auf dem Heimweg besorgte sie sich einen Blumentopf mit einer blühenden Pflanze. Morgens, als sie die ersten Hantierungen der Nachbarin in der Küche hörte, ging sie aus ihrem Zimmer und stand vor der Zwischentür. Sie faßte sich ein Herz und klopfte an. Auf das bissige „Herein“ der Wirtsfrau öffnete  sie die Tür und sagte stockend: „Guten Morgen, Frau X, ich wollte Ihnen eine kleine Freude machen. Hier haben Sie Blumen, Sie lieben doch Blumen so sehr.“ Die Nachbarin brachte kein Wort heraus. Entsetzt, überrascht und verlegen schaute sie ihre Untermieterin an. Nach einigem Zögern und Schlucken brach es aus ihr heraus: „Warum tun Sie das? - Weil ich Ihnen eine Freude machen wollte“, war die Antwort. Da war es mit der Fassung beider Frauen vorbei. Sie weinten sich aus. Und nach dem Weinen konnten sie sich aussprechen. Das war der Beginn einer guten Nachbarschaft.

Dieses Beispiel demonstriert etwas vom Angriff der Liebe. In Wirklichkeit war die Frau, die so schikanierte, in innerer Not und Einsamkeit. Der Angriff der Liebe hat diese verborgene Not bloßgelegt, aber auch ein Stück geheilt. Die Liebe zum Feinde befähigt mich, den Feind von seinem Standort aus zu sehen. Überlegenheit ist die Fähigkeit, Verteidiger seines Feindes zu sein. Ich kann aber meinen Feind nur verteidigen, wenn ich mir Mühe gebe, sein Denken, seine Meinung, seinen Standort zu verstehen. Genau das hat auch Jesus mit seinen Feinden getan. Er hat seinen angestammten Standort, den Himmel, verlassen und sich auf alle unsere Standorte gestellt, damit er uns in allem besser verstehen kann. …

Die Liebe zum Feind erfordert oft, daß ich den unteren Weg, d. h. den Weg des Sterbens gehe. An dem letzten großen Beispiel des Herrn Jesus sehen wir, daß der Feind so lange Feind bleiben kann, bis er uns scheinbar bezwungen hat. Es kann sein, daß er die Liebe ablehnt, verachtet. Aber auch hier ist die Liebe nicht am Ende, denn Liebe ist auch bereit zu sterben. Nicht immer ist körperliches Sterben erforderlich, viel häufiger, und manchmal schwerer, ist das Sterben in der eigenen Meinung, am eigenen Recht. Es kann sein, daß der Feind von mir Demütigungen verlangt. Die Liebe ist bereit, sich zu demütigen. Es kann sein, daß der Feind mich ausnutzt und schädigt. Die Liebe ist auch bereit, sich ausnutzen und schädigen zu lassen. Die Liebe hat immer den längeren Atem. Der Haß des Feindes muß sich einmal totlaufen, so wie die Wellen des Meeres am Strande verebben. Der Strand setzt dem Meer keinen Widerstand entgegen, er läßt die Wellen anrollen, und sie laufen sich an ihm aus. So ist die Liebe so lange bereit, den Angriff aufzufangen, ohne zurückzuschlagen, bis er „ausgelaufen“ ist. Der Tod Jesu ist die deutlichste Demonstration. An ihm mußte sich der Haß der Teufels und der Menschen und die Gemeinheit der Sünde totlaufen. Weil er alles auf sich genommen hat – ohne im Bösen zu reagieren – hat er die Macht des Bösen gebrochen.

(Wilhard Becker, „Angriff der Liebe“, 1976)

Kommentare