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"Schuld und Scham in der christlichen Tradition"

"Schuld und Scham in der christlichen Tradition"
„Ich armer, elender, sündiger Mensch…“
Schuld und Scham in der christlichen Tradition
(Michael Klessmann)

1. Einleitung
Am Anfang der Bibel wird in drei wichtigen Geschichten von der Scham der Menschen erzählt: Adam und Eva schämen sich, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben und nun plötzlich aus dem Stand der Unschuld herausgefallen sind und sehen, wer sie sind (Gen 3); Kain wird von Gott aus Gründen, die in der Geschichte nicht benannt werden, zutiefst beschämt und schlägt aus diesem Affekt heraus Abel tot (Gen 4). Und Noah, der sich betrunken hat und nackt irgendwo liegt, fühlt sich zutiefst beschämt dadurch, dass sein Sohn Ham ihn in seiner Nacktheit sieht und seinen Brüdern davon erzählt. Ham wird für diese Beschämung seines Vaters verflucht (Gen 9).

Drei heftige Schamgeschichten gleich am Anfang der Urgeschichte. Man könnte denken, dass auf Grund dessen die Auseinandersetzung mit diesem rätselhaften Affekt ein wichtiges Thema für die Judentums- und Christentumsgeschichte geworden wäre.
Wie Sie wissen, ist es nicht so gekommen: natürlich haben jüdische und christliche Exegeten sich mit den drei genannten Geschichten ausführlich beschäftigt, aber für die theologische Anthropologie sind sie kaum wirkungsmächtig geworden. Wichtige christliche Theologen, Paulus, Augustin, Luther, haben sich vorwiegend mit der Schuld des Menschen befasst, haben Sünde als Schuld interpretiert – und die Scham weitgehend außen vor gelassen. So ist eine Anthropologie entstanden, die den Menschen einseitig von den Phänomenen der Sünde und der Schuld – und damit von seinen Taten her zu verstehen sucht. Kulturkritiker haben diese Einseitigkeit immer wieder angeprangert – auch wenn sie das Christentum in ihrer Kritik moralisierend falsch verstehen: Friedrich Nietzsche nennt das Christentum eine neurotische Schuldkultur, der Philosoph Herbert Schnädelbach sieht in der Erbsündenlehre einen der Geburtsfehler des Christentums und der Soziologe Gerhard Schulze schreibt, die Sündenmoral des Christentums stelle „das gute Leben unter Generalverdacht“. Wie gesagt, die Frage nach der Scham bleibt in der christlichen Anthropologie weitgehend unberücksichtigt.

Zur Unterscheidung und Zusammengehörigkeit von Schuld und Scham

Scham in Schuld verwandeln
Die in Gen 3 erzählte Geschichte vom Sündenfall beginnt mit einer schuldhaften Tat, dem Übertreten des Gebotes Gottes, und endet in Scham. „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren“ (Gen 3,7). D.h. sie sehen, wie sie wirklich sind. Sie nehmen sich als Mann und Frau in ihrer Unterschiedlichkeit wahr und als solche, die die selbstverständliche Einheit mit dem Ursprung, mit Gott, verloren haben, so interpretiert es Dietrich Bonhoeffer. Sie haben sich eine Blöße gegeben, und das heißt, ihr So-Sein wird ungeschminkt und ungeschönt vor den Augen anderer sichtbar. Mängel, Schwächen oder Hässlichkeiten, die man lieber versteckt gehalten hätte, liegen nun offen zutage.

Sich schämen heißt: Man fühlt sich vor den Augen anderer erniedrigt, entwürdigt, verachtet, entehrt, belächelt. Und weil das die ganze Person betrifft, ihr Sein, ihr Wesen, geht Scham so tief und kann so unbändige Wut als Reaktion auslösen – eben, weil man sich darin als ganze Person aufgedeckt, schutzlos und durchschaut weiß. Wurmser fasst diesen Sachverhalt so zusammen: „Ihrem Inhalt nach ist ursprünglichste Scham der Schmerz des Gefühls, ungeliebt und liebensunwert zu sein.“ Scham betrifft das gesamte Sein, Schuld das Tun oder Lassen. Bei Scham geht es um Versagen, bei Schuld um Übertretung. Im Schamgefühl erlebt man das eigene Selbst als verletzt (Kränkung des Selbstwertgefühls), Schuld entsteht, wenn man ein anderes Selbst verletzt hat. Scham ist ein Geschehen, das man erleidet, das einen unversehens überfällt. Schuld entsteht durch eigenes Handeln, durch eigenes Entscheiden: Man hätte auch anders gekonnt. Scham hat eine stark körperliche Dimension (deren Erleben kulturell stark überformt ist) in doppelter Hinsicht: Sie entzündet sich leicht an Defekten des Körpers – ich bin schwach, ich bin dreckig, ich habe einen Defekt, mein Körper ist unansehnlich, ich habe die Kontrolle über meinen Körper, über meine Ausscheidungen, verloren – und sie wird vorrangig körperlich wahrgenommen durch Erröten, Schwitzen, den Blick abwenden, am liebsten Verschwinden wollen.
Die Bedeutung des Blicks der Anderen ist hier noch einmal zu unterstreichen: Der Blick kann vernichten und zu Schanden werden lassen oder – und darauf komme ich am Schluss beim Thema Segen zurück – er kann wertschätzen, anerkennen und aufrichten. Noch einmal Wurmser: „Liebe wird durch das Gesicht bewiesen, und dasselbe geschieht mit dem Liebesunwert…“
Nun nimmt die Geschichte vom Sündenfall die erstaunliche Wendung, dass Gott offenbar nicht will, dass die Beschämung der ersten Menschen grenzenlos und zerstörerisch ausfällt. Lapidar heißt es, „und Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an“ (Gen 3, 21). Damit wird die eingetretene Beschämung eingegrenzt: Das, was einmal kurz aufgedeckt worden ist, wird nun gnädig wieder zugedeckt. Denn mit permanenter Beschämung kann man nicht leben!
In allen zwischenmenschlichen Beziehungen (Seelsorge, Pflege, Erziehung, Verhältnisse zwischen Vorgesetzten und Untergebenen etc.), sollte es immer auch darum gehen, mögliche Beschämungen zu vermeiden oder mindestens zu begrenzen!
Die Fortsetzung der Urgeschichte (Gen. 4) verdeutlicht einmal mehr, was Scham ist und wie nahe liegend der Ausweg erscheint, sie in Schuld zu verwandeln.
Gott verweigert Kain seine Anerkennung „Der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, Kain und sein Opfer aber sah er nicht gnädig an“ (Gen 4,4f). Ein Grund wird nicht genannt; es entspricht nur einer verbreiteten Erfahrung: Die einen erfahren Anerkennung von Menschen, von Gott, den anderen wird sie vorenthalten. Scham entsteht auch hier vor den Augen anderer – und oft weiß man nicht warum, womit man das verdient hat. Die Scham kommt über einen wie ein Platzregen.

Ein erwachsener Mann erzählt in der Therapie Jahrzehnte später immer noch
mit heftigen Gefühlen von Scham, wie er sich als 10jähriger Junge in ein Mädchen verliebt und insgeheim ein Lied für sie geschrieben hat. Die Mutter findet beim Aufräumen das Blatt, fordert ihn auf, ihr das Lied vorzusingen, er tut es gutgläubig – und dann lacht sie ihn schallend aus, erzählt noch dem Vater und dem Bruder davon und alle schütteln sich vor Lachen. Der Junge hat sein Innerstes gezeigt – und wird dafür zutiefst beschämt.

Auf die Erfahrung des Bloß-Gestelltseins, von Demütigung und Beschämung, auf das Gefühl, nichts wert zu sein oder ungerecht behandelt worden zu sein, so sagt es die Geschichte vom Brudermord, folgen Zorn und Groll, Rachgier und Mordlust. Was man selber erlitten hat, will man dem anderen zufügen. Das passiv Erlebte wird ins Aktive gewendet, weil man im Aktiven Macht ausüben und die beschämende Ohnmacht abwehren kann. „Die Verwandlung von Scham in Gewalt gegen andere wendet Ohnmacht in Macht, Schwäche in Stärke, indem andere nun erleiden, was man eben noch selbst empfand.“ So wird die unerträgliche Scham auf dem Weg über Gewalt in besser erträgliche Schuld umgewandelt – eben, weil man im Prozess des Schuldigwerdens zumindest das Gefühl hat, dass man noch etwas tun kann, dass man noch Herr der eigenen Entscheidungen und nicht nur ohnmächtig ist.

Schamgefühle können also in Schuldgefühle umgewandelt werden. Aber auch umgekehrt gilt: Schuldempfinden und Schuldgefühle können etwas Beschämendes an sich haben: In der Übertretung, die ich begangen habe, wird deutlich, wer ich wirklich bin.
Allerdings muss man dem bisher Gesagten hinzufügen, dass begrenzte, maßvolle Scham und die damit verbundene Schamangst auch eine sozialisierende Wirkung haben kann. Sie sensibilisiert für die Getrenntheit vom anderen, damit für die eigenen Grenzen und spornt zu sinnvollen Ich-Leistungen an, die wiederum Stolz, das Gegengefühl zu Scham, bewirken. Scham und Stolz regulieren das Selbstwertgefühl, so dass Hilgers von der Scham als der „Hüterin des Selbst“ gesprochen hat. Was in diesem Zusammenhang die verbreitete Schamlosigkeit unserer Medienkultur für die Ich-Entwicklung bedeutet, kann ich hier nur als Frage andeuten


https://www.krankenhausseelsorge-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_krankenhausseelsorge_INAKTIV/Das_Christentum_die_Schuld_und_die_Scham.pdf

Kommentare

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Digrilimele 02.12.2023 16:51
Sehr interessanter Text.
Ich werde ihn mir ausdrucken.
Ich habe es schon in Beratungsgesprächen erlebt, wie lang zurückliegende Ereignisse, in denen die betreffenden Personen, so sehr unter den Folgen der Scham litten, dass es meinem Gegenüber, Tränen in die Augen schoss.
Und eine Wut, aufgrund unvergebener Dinge, in ihnen aufstieg.

Sie ( 45J., Erzieherin) berichtete, dass sie Legasthenikerin sei und sie erinnerte sich, wie ihre Klassenlehrerin, ihr Diktatheft in die Hand nahm und jedes falsch geschriebene Wort an die Tafel schrieb, mit dem Hinweis „ So schreibt man es nicht!“ Jeder in der Klasse wusste, dass es ihr Heft war.

Und sie lachten sie aus, die ganze Klasse, da sie selbst die leichtesten Worte falsch schrieb.

Interessantes Thema, nur habe ich eben keine Zeit mehr. 

Ich bin unwürdig, unzulänglich, nicht würdig genug geliebt zu werden,  können schlimmem Folgen solcher Erlebnisse sein. 
 
Digrilimele 02.12.2023 17:06
Den Text kann ich wirklich gut gebrauchen, muss ihn natürlich noch etwas mehr verinnerlichen, um einen Ausweg aus dieser misslichen Situation für den Betroffenen finden.

Vielen Dank für das Einstellen, lieber Zeitzeuge.

 
 
Digrilimele 02.12.2023 17:16
Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Menschen kenne ich, die davon betroffen sind. 🤔
 
Digrilimele 02.12.2023 17:25
Den Ausweg findet natürlich ER!!! - nur ist es manchmal gut, wenn man im Vorfeld, schon mal einige mögliche Lösungswege gedanklich durchgespielt hat, aber gleichzeitig damit rechnet, dass es natürlich  ganz anders,  als erwartet,  kommen kann.
 
Alkazar 02.12.2023 17:37
Würde mir das auch gern ausdrucken lassen! 
Vlt kann jemand mir den Link per PN schicken,
bevor ich wieder vergebens danach suche.

Sehr viele interessante Gedanken!!
Auch die Unterscheidung zwischen Schuld, und Scham. Gut finde ich auch das Schuld
nicht in einen Topf mit Sünde geworfen
wird. Denn auch in einem Psalm wird 
unterschieden, wenn es dort heisst: "Da bekannte ich Dir die Schuld meiner Sünde"
Das bedeutet Sünde ist ein Zustand von Abgetrenntsein, ungeklärt wer diesen hervorgerufen hat. Also ein Zustand!  Schuld hingegen ist ein Tatbestand, der nach einer genauen  Definition verlangt,  nämlich worin die Schuld besteht.  
Der obengenannte Soziologe spricht ein grosses Thema an, indem er kritisiert, dass
im Christentum die Neigung besteht den Menschen unter Generalverdacht zu stellen. Das macht minderwertig. 
Der Text wirft die Frage auf, wie Erlösung 
gemeint ist. Versteh ich das richtig?
 
 
(Nutzer gelöscht) 02.12.2023 18:28
Ein hervorragendes Thema für unseren Gesprächskreis. 
 
Digrilimele 02.12.2023 18:56
Ja, es ist sehr gut.🙏

Seit 1 Stunde denke ich bereits darüber nach…. Vielleicht auch länger…, 

Ich kam auf 4 Dinge, damals empfand ich es als sehr schlimm, aber  heute kann ich „Gott sei Dank“ selbst darüber lachen. 
 
Digrilimele 02.12.2023 19:14
Ich denke die Geistliche Wiedergeburt verändert in uns auch vieles.
Unsere Perspektive auf uns selbst und auf andere Menschen ändert such dadurch.

Auch die Gewissheit, dass es uns Gott, so einzigartig und wundervoll erschaffen hat und uns genauso liebt und als sein Kind annimmt.

Und auch die Erkenntnis, dass die Ereignisse, in unserem Leben von IHM arrangiert wurden, schenkt uns tiefen inneren Frieden,  mit uns selbst und allen Beteiligten.
 
(Nutzer gelöscht) 02.12.2023 19:21
Ich wurde an meine eigene Scham und mein beschämt werden erinnert und daran, dass ich es überwinden durfte. 
 
Digrilimele 02.12.2023 19:45
Ja, denn dort wo wir unsere Schwächen und Unzulänglichkeiten haben, da dürfen wir uns gewiss sein, das ER genau dort ansetzt, um diese  zu füllen bzw. überwinden.
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