Fremdes Leben, falsche Liebe

Fremdes Leben, falsche Liebe
Fremdes Leben, falsche Liebe

Eine interessante Frage ist nun, was geschieht, wenn Menschen mit kompensatorischen Selbstbildern lieben und Beziehungen führen. Du hast bestimmt schon einmal irgendwo gehört oder gelesen, dass nur lieben könne, wer sich selbst liebt, oder dass es egal sei, wen man heiratet, wenn man sich nur selbst liebe. Da ist etwas dran, aber das zu verstehen oder gar, wenn man selbst davon betroffen ist, zu ändern, ist alles andere als einfach.

Wenn ich nicht so recht weiß, wer ich bin, weil ich mein eigentliches, von meinen Eltern geschaffenes negatives Selbstbild tief in mir vergraben und mir stattdessen ein kompensatorisches Selbstbild geschaffen habe, dann suche ich mehr oder minder ständig nach Gelegenheiten, mein Selbstbild zu bestätigen. Ich handle also nicht aus mir selbst, sondern aus meinem Wunsch-Selbst heraus. So auch in der Liebe. Ich bewundere mein Gegenüber, weil ich selbst bewundert werden möchte. Ich bin großzügig mit den Fehlern des anderen („Das spielt keine Rolle. Du bist gut so. Ich liebe Dich, wie Du bist.“ ), weil ich hoffe, dass dann der andere auch so mit meinen Fehlern umgeht. Ich zeige aber meine Fehler nicht, weil ich sie selbst nicht sehen will. Ich lebe ja aus meinem Wunschbild heraus und will dieses Wunschbild bestätigt bekommen. Nun kann man sich aber nicht nahekommen, ohne dass der eigentliche Kern sichtbar wird. Spätestens unter Druck oder im Streit kommt mein negatives Selbstbild ans Licht. Ich kann aber, weil ich die negativen Seiten an mir vor mir selbst verberge, schlecht mit Kritik umgehen. Also schütze ich mich vor dieser Kritik: „Das war nicht so gemeint.“ ist die harmloseste Variante. „Du hast mich falsch verstanden.“ ist schon deutlicher. „Du bist doch selbst auch so.“ ist eine Steigerungsform, die deutlich macht, das man die Kritik nicht annehmen kann, weil sie das Bild, das man von sich selbst aufgebaut hat, in Gefahr bringt.

Wenn zwei Menschen mit kompensatorischen Selbstbildern zusammenkommen, lieben sich quasi nicht die Menschen selbst, sondern die Selbstbilder verbinden sich zu einer Hoffnung, endlich jemanden gefunden zu haben, der passt. Das bedeutet: Hinter dem Gefühl, dass da endlich jemand ist, der mich wirklich liebt, steckt die Hoffnung – und später im Konfliktfall: die Forderung – dass ich jemanden gefunden habe, der mein kompensatorisches Selbstbild bestätigt und mich nicht in die Gefahr bringt, mich mit mir selbst bzw. den abgelehnten Teilen meines Selbstes zu konfrontieren. Nun gibt es aber keine Beziehung ohne Probleme, Konflikte usw. Kritik wird also kommen. Da ich aber mein kompensatorisches Selbstbild wie ein Schild vor mir hertrage und die Beziehung aus diesem Wunschbild heraus führe, erlebe ich Kritik als Erschütterung nicht nur meines Selbstbilds, sondern – weil dieses Wunschbild ja der Ersatz für mein eigentliches (abgelehntes) Selbst ist – als existentiellen Angriff. Dementsprechend hart und bedrohlich sind dann oftmals die Verteidigungsstrategien. Was vielleicht als Kritik aus der Nähe, als aus Liebe heraus formulierter Wunsch gemeint war, wird als existentielle Bedrohung verstanden. Nicht selten wird dann sehr schnell mit dem Ende der Beziehung gedroht und/oder mit beinahe vollständigem Rückzug reagiert. Die Rückzugsreaktion stellt quasi das Selbstbild wieder her. Wenn ich allein bin, kann ich wieder der sein, der ich sein will. Die Drohung des Beziehungsabbruchs bringt den anderen dazu, sich zurückzunehmen und die Kritik nicht mehr zu äußern. Dass man damit die Beziehung immer weiter einschränkt, ihr so mit der Zeit die Lebendigkeit raubt und etwas tut, was man angesichts der Liebe, die man ja trotzdem spürt, eigentlich gar nicht will, wird einem kaum bewusst. Und wenn es bewusst wird, nimmt man sich vor, es nicht mehr zu tun. Weil aber der Selbstschutz, also der Schutz vor der Einsicht, dass man sich selbst eigentlich ablehnt, immer stärker ist, nimmt man die allmähliche Erosion der Liebe mehr oder minder bewusst in Kauf.


Die bisherigen Betrachtungen führen nun zu zwei Fragen:

1. Wie kann man lernen, sich selbst zu lieben?
2. Lassen sich Beziehungen weiterführen, wenn die Beteiligten entdeckt haben, dass sie, anstatt sich tatsächlich zu lieben, eine gewissermaßen symbiotische Verbindung ihrer kompensatorischen Selbstbilder gelebt haben?

Bezüglich der ersten Frage gilt es voranzuschicken, dass es sich dabei wahrscheinlich um eine der schwersten Aufgaben handelt, vor der ein Mensch im Laufe seines Lebens stehen kann. Es ist auch davon auszugehen, dass diese Aufgabe im besten Sinne des Wortes eine „Lebensaufgabe“ ist, denn ihre Bewältigung ist Teil des ganzen Lebens und als solches ein langer Prozess. Wenn man als Kind nicht geliebt wurde und/oder sich nicht geliebt gefühlt hat oder schwerwiegende Ereignisse die Kindheit erschüttert haben, dann lässt sich das nicht einfach „korrigieren“. Es kommt nicht einfach und geht wieder weg wie eine Erkältung. Die Narben wird man sein ganzes Leben lang tragen, und die Eigenheiten, die man sich im Umgang mit dem eigenen Leid angewöhnt hat, bleiben. Man kann lernen, damit zu leben.

Der erste Schritt besteht darin, die eigene Geschichte anzunehmen, sie nicht zu bewerten. Die meisten Betroffenen hadern mit den Erinnerungen an ihre Kindheit und mit dem Bild, das sie von ihren Eltern haben. Dieses Hadern kann in die Distanz führen und in eine andauernde negative Bewertung der Kindheit und der Eltern. Es gilt zu lernen, dass diese Sichtweise nicht hilft, sondern nur zu einer Konservierung des eigenen Leidens führt.
Der zweite Schritt besteht in der Frage nach dem eigenen Selbst, nach dem, was sich entfalten will, nach dem, was man will, wer man ist und werden möchte. Der Zugang zu diesen Ebenen der eigenen Person ist schwer, weil man lange gewohnt war, diese Aspekte abzulehnen. Findet man hier Antworten, so folgt die schwerste Aufgabe.

Im dritten Schritt gilt es, sich zu äußern, die eigenen Gefühle und Wünsche zu äußern, Grenzen zu setzen usw. Das erfordert in erster Linie Mut und den Willen, sich selbst zu ertragen, also die Reaktionen anderer Menschen auf das eigentliche Selbst zu ertragen. Gerade die eigenen Partner, aber auch die Eltern, so sie noch leben, werden zunächst versuchen, einen in das „alte Selbst“ bzw. in die gewohnte Beziehungskonstellation zurückzuziehen. Zur Infragestellung durch die eigene Unsicherheit in Bezug auf das eigentliche Selbst kommt so noch die Infragestellung durch das nähere Umfeld hinzu. Hier hat man also nicht nur die eigene Unsicherheit, sondern auch die Angst zu ertragen, die durch die Wünsche, Ermahnungen, Belehrungen, Zurechtweisungen und Bedrohungen der Menschen im näheren Umfeld hervorgerufen wird. Man braucht dazu viel Hoffnung und Zutrauen in die eigene Stärke – also Dinge, die man erst sehr langsam entwickelt. Aber der Weg zurück in die frühere Anpassung würde zu einer umso stärkeren Empfindung einer „falschen Liebe“ oder eines „falschen Lebens“ führen. Durch die Veränderung der Perspektive auf das eigene Leben und vor allem durch neue Handlungen (indem man eigenen Impulsen folgt) wird das Umfeld mit der Zeit anders reagieren und man kann lernen, dass mit der Zeit immer weniger negative Reaktionen (Ablehnung) erfolgen, wenn man sich äußert. Dazu braucht man aber auch neue Interaktionspartner. In vielen Fällen ist dies der vierte Schritt. Dem Äußern eigener Wünsche folgt eine Veränderung des Umfelds. Bei manchen geschieht dies sehr schnell – und oft genug folgt dann der Sturz in eine neue Symbiose aus der Hoffnung heraus, dass nun endlich alles besser würde. Es ist daher besser, all das langsam zu gestalten, damit das Selbst tatsächlich lernen kann, auch wenn dies sehr schmerzhaft ist. 


Zurück zu Dir: Es gibt wenig, was Menschen so bewegt wie die Liebe. Viele halten die Liebe für das Wichtigste in ihrem Leben. Falls Du zu denen gehörst, die sich selbst nicht lieben, oder falls Du mit jemandem zusammen bist, von dem Du den Eindruck hast, dass es ihr oder ihm schwer fällt, sich zu lieben, dann ist dieser Text für Dich. In der Kindheit nicht oder nur für bestimmte Verhaltensweisen oder Leistungen geliebt zu werden, ist eine derart bittere Erfahrung, dass man sie nie wieder machen möchte und sich davor schützen will. Doch dieser Selbstschutz verhindert, dass man erleben kann, was man am meisten braucht: geliebt zu werden. Liebe und Verletzlichkeit sind miteinander verbunden. Die Fähigkeit, sich zu äußern und das Gefühl der Verletzlichkeit zu ertragen, das es bedeutet, sich wirklich zu zeigen, ist die Voraussetzung dafür, zu lieben und geliebt zu werden. Es ist ein Wagnis, und der Preis ist hoch. Der Preis lautet: Du gibst Deinen Selbstschutz, Deine lieb gewordenen Bilder von Dir und alle Distanz auf. Du bist da. Dein Gegenüber kann auf Dich reagieren. Du wirst wahrgenommen und anerkannt, wie Du bist. Nicht, wie Du sein sollst oder sein willst. Dazu gehören auch Dinge, die Dein Gegenüber nicht leiden kann. Aber das muss so sein. Am Anfang tut es weh. Dann ist es großartig.

(Jörg Heidig)

Jörg Heidig, Jahrgang 1974, nach Abitur und Berufsausbildung in der Arbeit mit Flüchtlingen zunächst in Deutschland und anschließend für mehrere Jahre in Bosnien-Herzegowina tätig, danach Studium der Kommunikationspsychologie, anschließend Projektleiter bei der Internationalen Bauausstellung in Großräschen, seither als beratender Organisationspsychologe, Coach und Supervisor für pädagogische Einrichtungen, soziale Organisationen, Behörden und mittelständische Unternehmen tätig. 2010 Gründung des Beraternetzwerkes Prozesspsychologen. Lehraufträge an der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Dresden International University, der TU Dresden sowie der Hochschule Zittau/Görlitz.

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