„Die Erneuerung des Lebens“

„Die Erneuerung des Lebens“
Denn ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder. Nur ⟨gebraucht⟩ nicht die Freiheit als Anlass für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe!
14 Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Gal 5:13-14, Elb)

„Die Erneuerung des Lebens“

Wohin führen uns diese Überlegungen über die menschliche Person? Sie zeigen uns eine auffallende Zusammengehörigkeit des Lebens, der Freiheit und der Person, die alle eng miteinander verbunden zu sein scheinen.

Am 1. August läuten abends in allen Städten und Dörfern meines Landes die Glocken, und auf den Bergen und Hügeln und an allen Ufern unserer Seen werden Feuer entzündet. Diese Feuer riefen einst in der Stunde der Gefahr, wenn ein fremdes Heer ihre Freiheiten bedrohte, die Eidgenossen zum Kampf.
Mein Vaterland hat einen Leib: seine Berge und Täler, seine Städte und seine Felder. Es hat eine Seele: die Freuden und Leiden, seines Volkes, den Geist seiner Gelehrten und Wissenschaftler, seinen zähen Willen zur Arbeit und seine leidenschaftliche Liebe zur Freiheit.
Aber mein Vaterland ist mehr als das. Es ist eine Person. Der Rütlischwur war eine Verpflichtung „auf den Namen Gottes des Allmächtigen“. Ein überzeugter Entschluß und das aus der Tiefe hervorbrechende Leben hat diese paar Hirten von ihrem erbärmlichen Dasein als Untertanen der fernen Habsburger zu einem persönlichen Dasein emporgehoben. Immer wieder in der Geschichte ist so das Leben von neuem hervorgebrochen.
Plötzlich, in einer freien und verantwortlichen Entscheidung, bestätigt sich unser Ich. Dann bricht aus uns das Leben hervor. Nach und nach versinkt es dann wieder in den automatischen Abläufen, die es selber geschaffen hat und die uns zu Gefangenen machen. Die äußere Rolle verdeckt das eigentliche Ich, das dann in einem neuen Einsatz seiner selbst wieder zum Vorschein kommt. Das Leben ist kein starrer Zustand, sondern Rhythmus, Wechsel und stets sich wiederholende Neugeburt. Das zeigt sich schon in der Art wie es sich erhält. Es verharrt nicht dauernd in einem unveränderlichen Organismus, sondern strömt von Generation zu Generation, von Geburt zu Geburt immer wieder von neuem hervor.

Die wahre Freiheit setzt die Befreiung von den automatischen Abläufen voraus. Frei sein heißt: wieder zu unserem Selbst zurückfinden, nicht zu dem biologischen Träger der Reflexe und unerbittlichen Mechanismen, die das Leben hemmen, sondern zum Selbst der Person. Das sind die wahrhaft fruchtbaren Augenblicke des Daseins.

Ich erinnere mich an den Augenblick, in dem ich plötzlich im Alter von fünfunddreißig Jahren nach einem langen Gespräch mit meiner Frau über den Tod meiner Eltern weinen konnte, die ich in früher Jugend verloren hatte. In einer Erschütterung meines ganzen Wesens spürte ich, daß etwas in mir endgültig anders geworden war. Ich war von mir selber befreit, von meiner eigenen Fassade und von zahlreichen unbewußten psychologischen Kompensationen meiner gehemmten Gefühle.

Wie oft habe ich seitdem in meiner Sprechstunde gesehen, wie jemand etwas Ähnliches durchmachte. Er fühlte dann ein schweres Gewand von seinen Schultern gleiten, ein Gewand, das er seit Jahren herumschleppte, ohne es überhaupt noch zu wissen. Eben dieses Wiederauftauchen der Person durch das Aufreißen und Zerreißen der äußeren Hülle macht die personale Medizin aus. Immer ist es ein Riß, etwas, das weh tut wie eine Geburt. Diese äußere Hülle ist außerordentlich stark, die automatischen Abläufe halten uns fest und verstärken sich durch die dauernde Wiederholung. Wenn man jemand nachsagt, er spiele Theater oder gar er sei hysterisch, verletzt man ihn immer, denn man tut ihm unrecht. Man gibt zu verstehen, daß er sich anders verhalten könnte, wenn er nur wollte.

Eingefahrene psychologische Schemata sind etwas Schreckliches. Der Wille verzehrt sich an ihnen so wie sich Fingernägel an einer Betonmauer abschleifen. Ein „Komplex“ ist etwas Unerbittliches. Und an den Festungsmauern steht als Wachposten die Angst.
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(Paul Tournier, „Mensch sein ohne Maske“ )

Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. (Joh 16:33, Luther)

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