Warum braucht der Mensch Feinde?

Warum braucht der Mensch Feinde?
Warum braucht der Mensch Feinde?

Wir alle tragen offenbar ein mehr oder weniger großes Aggressionspotential in uns und haben das Bedürfnis, Feinde in der Außenwelt zu definieren. Es gibt jedoch Möglichkeiten, destruktiven Entwicklungen vorzubeugen und Gewaltäußerungen entgegenzuwirken.

Braucht der Mensch wirklich Feinde? Unterstellt nicht schon die Frage eine allzu pessimistische Sicht? Ist nicht vielmehr anzunehmen, daß der Mensch aus einem tiefen inneren Bedürfnis heraus eigentlich Freunde sucht und nur bei Angriff, Zurückweisung und Enttäuschung – geradezu notgedrungen – aggressiv reagiert?

Leider spricht nichts für die These von der dem Menschen innewohnenden Friedfertigkeit. Schon eine flüchtige Rekapitulation der vielfältigen Formen von Gewalt, die im Verlauf der Weltgeschichte ausgeübt wurden und sich in der Gegenwart ereignen, belehrt uns, daß im Menschen ein arttypisches Aggressionspotential schlummert, das unter entsprechenden inneren und äußeren Bedingungen jederzeit durchbrechen kann und unter Umständen unheilvollste Folgen nach sich zieht.

Nicht nur Krieg und jede andere Art kollektiver organisierter Auseinandersetzung mit Waffen, sondern auch sexuelle Ausbeutung und Mißhandlungen physischer und psychischer Art in Familien – und zwar in allen sozialen Schichten –, Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr, Fremdenhaß und soziale Ausgrenzungen der verschiedensten Minoritäten, Schlägereien unter Kindern und Jugendlichen in Schulen und in der Freizeit sowie Darstellungen von Mord und Brutalität in ganzen Genres von scheinbar harmlosen, amüsanten Filmen und der Trivialliteratur – alle diese Manifestationen von Gewalt lassen eines deutlich erkennen: Offensichtlich besteht in uns allen ein Bedürfnis, Feinde in der Außenwelt zu definieren, gegen die wir – vermeintlich legitim – aggressive Impulse richten können.

Fragen wir uns, was dieser Suche des Menschen nach Feinden zugrunde liegt, so sind vor allem fünf Motive zu berücksichtigen:

– die Neigung zum Schwarz-Weiß-Denken,

– die Tendenz, an sich selbst abgelehnte Triebregungen auf andere zu  projizieren,

– die Suche nach Sündenböcken,

– der Wunsch, sonst nicht faßbare Gefahren zu konkretisieren, und

– die Entlastung von Schuldgefühlen.

Die ersten vier Motive stellen allgemeine Reaktionsweisen des Menschen dar und finden sich in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, während das fünfte – Entlastung von Schuldgefühlen – vor allem bei der Diskriminierung von Menschen aus anderen Kulturen eine Rolle spielt.

Schwarz-Weiß-Denken

Bereits Kinder im Vorschulalter haben recht eindeutige Vorstellungen davon, wie ein „Feind“ auszusehen habe: Er muß vor allem anders als man selbst sein, sich durch äußerliche Merkmale wie etwa Kleidung oder körperliche Anomalien – beispielsweise grüne Füße – von dem gerade erst aus dem gewohnten Umfeld abgeleiteten Menschenbild unterscheiden, wie eine 1989 veröffentlichte Studie von Petra Hesse und Debra Poklemba vom Center of Psychological Studies in the Nuclear Age in Cambridge (Massachusetts) ergeben hat. Damit verfügen schon Drei- bis Sechsjährige über ein Mittel, ihre Gefühlswelt zu regulieren und ihren Ängsten und Ohnmachtsgefühlen – im wesentlichen spielerisch – entgegenzuwirken. Das Erleben von Unsicherheit, Bedrohung und unerträglicher Ambivalenz vermeiden sie durch solche Schwarz-Weiß-Zeichnungen am wirkungsvollsten – indem sie unbeirrbar davon überzeugt bleiben (ohne daß dies letztlich zu begründen wäre), wer in die Kategorien Freund und Feind einzuordnen ist.

Es wäre indes ein Irrtum anzunehmen, diese Art des Denkens und Fühlens sei ein spezifisch kindliches Phänomen, und die Aufspaltung der Welt in Gut und Böse werde mit zunehmender kognitiver und emotioneller Entwicklung überwunden. Fragen wir uns selber nach unseren Freund- und Feindbildern, wie wir sie in persönlichen Beziehungen und im Hinblick auf verschiedene soziale Gruppierungen erleben, so können wir leicht feststellen, daß wir alle in gewissem Maße zu solchen Entweder-Oder-Kategorisierungen neigen (Bild 1).



https://www.spektrum.de/magazin/warum-braucht-der-mensch-feinde/820885


--------------------------------------

Feindbilder funktionieren wie Drogen: Sie ermöglichen die Verdrängung eigener Ohnmachtserfahrungen und den Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle.

Kommentare