Das gescheiterte Experiment 💣

Das gescheiterte Experiment 💣
KULTURELLE KONFLIKTE
Das gescheiterte Experiment


Von Sebastian Müller | 24. Oktober 2023


IMAGO / IPON



Den Übergang in die multiethnische Demokratie nannte Yascha Mounk ein „historisch einzigartiges Experiment“, von dem niemand wisse, ob es funktionieren wird. Der Jubel über die Massaker der Hamas sorgt für Ernüchterung.


In den 1990er Jahren, der Hochphase der Globalisierung, erschienen auf dem internationalen Buchmarkt zwei Bestseller: The End of History and the Last Man von Francis Fukuyama 1992 und Clash of Civilizations von Samuel Huntington 1996. Fukuyama wurde für seine hegelianische Prophezeiung vom historischen Sieg der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft im euphorischen Rausch der Perestroika umjubelt. Huntingtons unbequeme These dagegen, dass der Kampf der Ideologien durch Konfliktlinien abgelöst (tatsächlich überlagert) wird, die zwischen den großen Kulturen und Zivilisationen verlaufen, vor allem von linker Seite scharf kritisiert.

Dann kam die Mutter der Zeitenwenden des 21. Jahrhunderts: der 11. September 2001. Es folgte der War on Terror, der schlechte Ordnungen oft durch noch schlechtere Ordnungen ablöste, gefolgt von Anschlagswellen in ganz Europa. 2014 rief der IS in Teilen Syriens und des Iraks ein radikalislamistisches Kalifat aus und unterwarf die gesamte Region einer Herrschaft des Schreckens. 2015 erreichten die Zuwanderungswellen aus den durch Washington, Paris, Moskau, Riad oder Teheran weiter destabilisierten Krisenregionen Afrikas, des Maghreb, Nahost und Asien einen ersten kritischen Höhepunkt. Und die geopolitischen Realitäten weisen angesichts des Ukraine-Krieges und der sich zuspitzenden Rivalität mit China in Richtung einer neuen Blockbildung. Aufgrund der geopolitischen Machtverschiebungen konstatierte 2019 der republikanische US-Senator Ben Sasse folgerichtig das Ende vom Ende der Geschichte.

Symbolträchtiger als mit dem World Trade Center hätte die liberale Idee vom Wandel durch Handel, von Multikulti und einer Weltgesellschaft aus Global Citizens nicht stürzen können. Sie zerstob im folgenden Stück für Stück im Terror der Innenstädte ‒ in Paris, London, Nizza, Madrid, Barcelona, Berlin, Hamburg, Stockholm, Brüssel oder Wien. Sie starb mit der flächendeckenden Gewalt und der Ächtung der Symbole der Republik während der Aufstände migrantischer Jugendlicher in zahllosen französischen Städten. Sie wird übertönt durch Verlautbarungen der Verachtung in den Moscheen und auf den Straßen, wenn man hinzuhören bereit ist wie der Journalist und Islamexperte Constantin Schreiber. Sie wurde entzaubert durch die Enthauptung des Lehrers Samuel Pathy am 16. Oktober 2020. Oder jüngst durch die Ermordung des Lehrers Dominique Bernard am 12. Oktober 2023, dem von einem polizeibekannten Dschihadisten die Kehle durchgeschnitten wurde.


Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange fortführen. Und sie sind keine „Einzelfälle“ – sie sind ein Symptom. Die Utopie der One World wird dekonstruiert durch eine Realität, die es in den Vorstellungen ihrer Befürworter nicht geben dürfte und deshalb lange tabuisiert wurde. Es sind die Verwerfungen eines „historisch einzigartigen Experiments“, wie der Politologe Yascha Mounk die Verwandlung der monoethnischen, monokulturellen Demokratie in eine multiethnische nannte. „Niemand weiß, ob es funktionieren wird“, ergänzte er 2018. Es drängt sich der Eindruck auf: Es wird nicht funktionieren. Ausgerechnet Henry Kissinger, einst einer der größten Verfechter des Multikulturalismus, glaubt, dass ein Bürgerkrieg unvermeidlich ist, wenn die derzeitigen Trends anhalten.

Kein Buch dürfte vom Lauf der Geschichte derart prominent zerrissen worden sein wie Fukuyamas Ende der Geschichte. Den globalen Siegeszug der Demokratie, von dem unsere „wertegeleitete Außenpolitik“ noch immer träumt, wird es nie geben – allein schon, weil ihr dafür in vielen Weltregionen die historisch und kulturell gewachsenen Voraussetzungen fehlen. Gerade einmal vier Prozent aller islamischen Länder sind demokratisch regiert. Noch in den 1970er Jahren waren es elf Prozent. Das Nation Building nach westlichen Vorbild endete im Irak und in Afghanistan in einem Fiasko. 2008 musste Fukuyama selbst einräumen, dass in islamischen Ländern eine andere Dynamik herrscht:

[quote]„Der einzige wirkliche Konkurrent der Demokratie in der Welt der Ideen ist heute der radikale Islamismus."

Das Ende der Geschichte, so Fukuyamas letzte Hoffnung, bestünde in der Integration und Assimilation nicht-westlicher Kulturen in die westliche Kultur, unter Preisgabe derer Grundsätze zugunsten von Freiheit und Menschenrechten. Huntington verwies darauf, dass die Werte des Westens in anderen Kulturkreisen nicht als universelle Werte anerkannt würden. Der Westen „eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte (…), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt.“ Modernisierung mit westlicher Kultur oder Verwestlichung gleichzusetzen – für Huntington ein Irrtum.[/quote]

Kipppunkte

Die Folgen dieses Irrtums zeigen sich zunehmend auch im Innern: In den Jahren seit 2015 ist Europa mit einer existenziellen Migrationskrise konfrontiert. Im Experimentierfeld des öffentlichen Raums zeigt sich dabei immer häufiger, dass mit der Masseneinwanderung auch die Konflikte der Einwanderer importiert werden. Als am Morgen des 7. Oktober die unbeschreiblichen Gräueltaten der Hamas an israelischen Zivilisten in der Nähe des Gazastreifens begannen, bejubelten in zahllosen westlichen Städten arabischstämmige Muslime (in unheiliger Allianz mit Linksextremen) die Massaker der Terrororganisation mit „Allahu Akbar“ Schlachtrufen, die erschütternd äquivalent klingen zum „Sieg Heil“ der Nazis.

Da jetzt auch der israelische Gegenschlag hohe Opferzahlen der palästinensischen Zivilbervölkerung in Kauf nimmt, ist die Gefahr einer weiteren Eskalation groß. Auf den Plätzen und in Netzwerken wird zur Gewalt an in Europa lebenden Juden, gegen die Polizei oder öffentliche Orte aufgerufen. Es kursieren Videos aus England, in denen Muslimas die Steckbriefe von Personen von Wänden reißen, die in Israel von der Hamas verschleppt worden sind. Der Community Security Trust, der Hassverbrechen gegen britische Juden überwacht, meldete unlängst, dass die antisemitischen Vorfälle in Großbritannien derzeit dreimal so hoch sind wie im letzten Jahr. Auch in Deutschland nahmen seit dem Überfall der Hamas die antisemitischen Vorfälle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 240 Prozent zu. Polizisten sind zum Schutz jüdischer Einrichtungen abbestellt, mehr als hundert bewachen allein das Holocaust-Mahnmal in Berlin. 

Die Überraschung, Ungläubigkeit und Hilflosigkeit der Politik, die die Gefahren unkontrollierter, islamistischer Migration immer banalisiert, verdrängt oder verklärt hatte, war groß. Bis jetzt galt Antisemitismus fast ausschließlich als Problem des deutschen Rechtsextremismus. Umso enttäuschter zeigt man sich nun über das lange Schweigen und die dann verhaltenen, ja relativierenden Statements der Islamverbände. Ali Erbas, Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, deren deutscher Ableger der Islamverband Ditib ist, hatte in einer Predigt Israel als "rostigen Dolch im Herzen der islamischen Geographie" bezeichnet und das Massaker als notwendigen Widerstand legitimiert. Die linksliberal gefärbte deutsche Kulturlandschaft, die sich im „Kampf gegen Rechts“ sonst immer medienwirksam exponiert, schweigt dazu.

Ganzer Artikel:

https://makroskop.eu/36-2023/das-gescheiterte-experiment/

Kommentare

Schreib auch du einen Kommentar